Melody's Bakery


     „Nein! Pass doch auf!“ Nur mit Mühe schaffte ich es, die dreistöckige Hochzeitstorte zu stützen, die Melanie zu nah am Rand der Theke abgestellt hatte. Nur eine falsche Bewegung und das Meisterstück aus rosa Fondant und Buttercreme würde, mitsamt seinen sechzig Zuckerschmetterlingen, auf dem Holzboden der Backstube landen. Unwiederbringlich zerstört.      Eine halbe Stunde bevor es bei der Location sein sollte. 

     Das hätte mir gerade noch gefehlt. Ein weiterer Misserfolg. Ein Auftrag, der kein Geld einbringen würde. 

     Vorsichtig schob ich das schwere Stück in Sicherheit und sah Melanie wütend an, die sich keiner Schuld bewusst war. Sie flirtete lieber mit einem unserer Fahrer und warf ihre platinblonden Haare schwungvoll über die Schulter. Ich musste mich daran erinnern, warum ich die 19-jährige überhaupt beschäftigte: Sie war die Nichte meiner besten Freundin Tanja, die mir gerade besänftigend eine Hand auf die Schulter legte.

     „Ich kümmere mich darum“, sagte sie leise und ich seufzte.

     „Bitte!“ Mir war egal, dass ich flehte. Ich wollte nur, dass Melanie aus meiner Bäckerei verschwand, eh sie ernsthaften Schaden anrichtete. 

     Während ich darauf vertraute, dass Tanja die Situation regelte, wandte ich mich dringenderen Problemen zu.

     Meiner finanziellen Situation.

     In meinem Büro stapelten sich die unbezahlten Rechnungen. Vom Café und meinem Haus.

     Seufzend ließ ich mich auf das kleine Sofa fallen, dass meine Nanna schon benutzt hatte. Ich hatte es aus unserem Haus gerettet, bevor ich einen Großteil der Sachen versteigern lassen musste. Auf dem verschlissenen Polster lag das neuste Schreiben einer großen Hotelkette. Meine Rettung. Und mein Untergang. Sie boten mir einen unverschämt hohen Betrag, wenn ich ihnen das Land verkaufte, das meine Familie bereits seit etwa dreihundert Jahren bewohnte. 

     Ein leises Klopfen ließ mich aufsehen. Tanja lehnte im Türrahmen. Sobald sie meinen Gesichtsausdruck sah, schloss sie die Tür. Von innen. 

     „Schon wieder?“, fragte sie und setzte sich neben mich. Sie angelte das Schreiben aus meinen Fingern. „Wow! Na das nenne ich aber mal viele Nullen.“

     „Mh“, stöhnte ich und lehnte mich mit geschlossenen Augen zurück. 

     „Und du wirst wieder ablehnen?“

     War das eine ernstgemeinte Frage? Wie könnte ich nicht erneut ablehnen? Sie boten einen Betrag in achtstelliger Höhe für meine Seele. 

     Tanja schob sich vom Sofa und ging zum Bücherregal. Hinter einem dicken Buch von Stolz und Vorurteil gab es einen versteckten Raum. Für Whiskey. Als das Café noch meiner Großmutter gehörte, stand dort immer eine Flasche. Tanja war die Einzige, die davon wusste.      Und diese alte Tradition wieder aufleben ließ. Besonders in Momenten wie diesen war ich ihr sehr dankbar dafür.

     Wortlos reichte sie mir die Flasche und ich nahm einen großen Schluck. Würgend gab ich sie ihr zurück. 

     Ich hasste Whiskey. Aber das warme Gefühl in meiner Speiseröhre hatte eine seltsam beruhigende Wirkung auf mich.

     Wissend sah sie mich an und ich verdrehte die Augen. Sie liebte dieses Zeug. Unverpanscht, ohne Cola. Aber ich traute mich auch mit Cola nicht wirklich an Whiskey. 

     Sie genehmigte sich ebenfalls einen Schluck und stellte die Flasche dann wieder zurück ins Regal.

     „Also, wenn wir sie noch ein bisschen hinhalten, bieten sie uns noch mehr.“ 

     Ich wies sie nicht darauf hin, dass es kein uns gab. Und ich vermied es auch, sie darauf hinzuweisen, dass ich für kein Geld die alte Plantage außerhalb der Stadt verkaufen würde. Aber es war nett, dass sie versuchte, mich aufzumuntern.

     Tanja nahm das Schreiben der Blackwell Resorts und legte es auf den Schreibtisch. Zu den anderen Schreiben dieser blöden Firma. Ich glaube, mittlerweile waren es sieben oder acht? Neun, mit dem heutigen.

     „Komm schon, Süße. Alles halb so wild. Wir finden eine Lösung.“

     „Wir?“, fragte ich und sah sie skeptisch an.

     „Natürlich wir!“ Sie ließ sich neben mich fallen und legte eine Hand auf meinen Oberschenkel. „Ja, wir. Wie lange arbeite ich jetzt ohne Gehalt?“

     Innerlich zuckte ich zusammen. Sie hatte Recht. Seit drei Monaten bezahlte ich sie nicht mehr. Eigentlich sogar seit sechs Monaten. Aber sie hatte mich nie auf die anderen drei Monate angesprochen.

     „Wir werden noch mehr Werbung machen“, schlug sie vor. 

     „In Cresent Cove?“, fragte ich zweifelnd. Jeder in unserem kleinen Küstenstädtchen kannte Melody’s Bakery bereits. Das kleine Café war schließlich eine Institution. Meine Großmutter hatte den Laden vor über sechzig Jahren aus dem Nichts erbaut. Als sie vor vier Jahren starb, hatte sie ihn an mich vererbt.

     „Okay, dann eben auch außerhalb.“ Tanja ließ nicht locker. 

     „Außerhalb? Meinst du, jemand aus Charleston würde nur zum Kaffeetrinken herkommen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das wird nichts.“

     Das Problem war ja auch nicht, dass wir zu wenig Kunden hatte. Melody’s Bakery war das einzige Café im Ort. Es lag direkt an der Hauptstraße und war für alle hier ein Treffpunkt. Ob nun die Teenager sich hier verabredeten oder die alte Mrs. Gregory ihre tägliche Tasse Tee am Fensterplatz in der Ecke trank ... 

     Ein lautes Scheppern riss mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Erschrocken sah ich zu meiner Freundin und betete im Stillen, dass es nicht Melanie mit der Hochzeitstorte war.

     Umsonst.

     Sobald ich aus meinem Büro trat, sah ich die Schweinerei. Schmetterlinge und Blüten lagen auf dem Boden verstreut. Die Mischung aus Marzipan, Buttercreme und Fondant lag auf dem Boden. Und Melanie stand ahnungslos daneben. Nicht unschuldig, nein. Sie war sich ihrer Schuld durchaus bewusst.

     „Lina, nicht aufregen“, flüsterte Tanja und griff nach meinem Arm. 

     Aufregen? Nein. Ich regte mich nicht auf. Ich überlegte gerade, wie viel Jahre wohl auf Mord standen. Es wäre Notwehr – das gab doch sicherlich mildernde Umstände!

     In meinem Kopf drehten sich die Gedanken. In zwanzig Minuten sollte die Torte bei der Feier sein. 

     „Was haben wir noch da?“, fragte ich und wandte mich von Melanie ab. Ich ertrug ihren Anblick gerade nicht. 

     Tanja holte zwei fertige Tortenböden aus dem kleinen Kühlraum. Sie waren für eine andere Feier geplant, aber jetzt musste ich improvisieren. 

     „Lina, es tut mir wirklich leid“, versuchte sich Melanie zu entschuldigen und trat näher. Ich hob abwehrend eine Hand. Wenn sie auch nur noch einen Schritt näher kam oder gar einen noch ein Wort sagte, würde ich ausrasten. Ich hatte jetzt keine Zeit dafür.

     Tanja suchte in der Zwischenzeit alles für eine neue Buttercreme zusammen. Zum Glück hatte ich immer eine fertige Portion Fondant in meiner Vorratskammer. Ein paar der Schmetterlinge ließen sich tatsächlich noch retten. Sie lagen einsam und verlassen auf den Teigresten oder der Servierplatte. 

     Nach zehn Minuten hatten wir eine respektable Grundstruktur zusammengebaut. Nichts im Vergleich zu der dreistöckigen Torte von vorhin. 

 

     „Ruf die Hochzeitsplanerin an. Sie muss Bescheid wissen, dass wir später kommen“, wies ich Tanja an, während ich aus Marzipan ein paar Schmetterlinge und Rosen fertigte. Zwanzig Sekunden später hörte ich sie am Handy reden. Offensichtlich gab es bei der Hochzeit auch schon einige Verspätungen, so dass es nicht dramatisch war, dass wir dreißig Minuten später kamen. In den dreißig Minuten gelang uns keine Glanzleistung, aber immerhin etwas. Während sich der Lieferant mit der Torte auf den Weg machte, vereinbarte ich mit der Hochzeitsplanerin am Telefon, dass diese Torte aufs Haus ging. Es war schließlich nicht die vereinbarte Ware. Sie würde schmecken, keine Frage. Aber es war nicht der Stil meiner Bäckerei.

     Nanna drehte sich vermutlich gerade im Grabe um.